Sei mir ein starker Hort, dahin ich immer fliehen kann, der du zugesagt hast, mir zu helfen.
(Psalm 71, 3)
Liebe Gemeindemitglieder und Freunde unserer Gemeinde,
Sie wundern sich vielleicht, warum Sie in dieser Woche einen Brief von mir bekommen. Unsere Pastorin Frau Feddersen hat eine Woche Urlaub. Sie kündigte ja schon an, dass Sie dennoch nicht auf einen Brief aus Ihrer Gemeinde verzichten sollen.
Es liegen ungewöhnliche Wochen hinter uns. Wie ist es Ihnen ergangen? Ich habe zum Teil eine Entschleunigung meines Tuns erfahren. Zum Glück darf ich weiterhin jeden Tag arbeiten, zwar anders als sonst, aber ich habe meine Aufgaben – und die machen mir viel Freude. Die Feierabende sind ruhiger geworden, keine Termine, kein Hetzen. Ich nehme mir mehr Zeit für stille Momente.
Und es gibt mehr Zeiten, die ich mit Gesprächen am Telefon verbringe. Mit einigen Menschen telefoniere ich sehr regelmäßig. Andere Personen rufen mich spontan an oder ich suche den Kontakt. Einfach nur mal hören, wie es so geht. Die Gespräche sind oft sehr intensiv und ausführlicher als zu anderen Zeiten.
Dann gibt es noch die Begegnungen mit Menschen, die ich gar nicht kenne. Auf einem Spaziergang komme ich mit einer Frau ins Gespräch. Wir sprechen nicht nur über das aktuelle Weltgeschehen, ich erfahre in kurzer Zeit sehr viel über ihre Lebensgeschichte.
Sie erzählt mir, dass Sie oft diesen Weg an der Aller nimmt, um hier in der Natur zu Gott zu beten. Sie erzählt ganz offen über ihren Glauben. Fariha ist Kurdin, sie lebt seit über 40 Jahren in Deutschland. Das ausführliche Gespräch mit ihr begleitet mich in meinen Gedanken über viele Tage. Mir war nicht klar, dass Menschen mit Jesidischem Glauben auch an Gott glauben. Fariah und ich sind uns einig, dass Gott für alle Menschen da ist, dass er alle Menschen liebt, egal woher sie kommen, woran sie glauben, wie sie leben.
Es tut gut mit ihm zu reden und ihm meine Ängste, Sorgen, Nöte oder vielleicht auch Einsamkeit zu schildern. Er ist für mich da, hört mir zu. Und er wendet vieles in meinem Leben, vor dem ich mich anfangs fürchtete, letzendlich zum Guten. Oft erkenne ich das erst im Nachhinein. Manchmal verschließe ich mein Herz so sehr, dass ich Gottes Hilfe erst sehr spät oder vielleicht auch gar nicht sehe. Zu Gott kann ich immer fliehen. Er hat uns zugesagt, uns zu helfen. Egal was ist, egal wer ich bin. Er ist für mich da. Immer!
Mit Fariah spreche ich auch über unseren Umgang mit unseren Mitmenschen. Sie erzählt mir ihre Sichtweise: „Menschen sind wie unsere Finger. Jeder ist verschieden, sieht anders aus und hat eine andere Bestimmung. Aber alle sind wichtig und nur gemeinsam bilden sie eine vollständige Hand und bewältigen die schwierigsten Aufgaben.“ Ein sehr anschaulicher und wirklich schöner Vergleich, finde ich.
Nach dem Gespräch mit dieser mir vollkommen fremden Frau fühle ich mich gestärkt und irgendwie beschwingt. Ich denke darüber nach, wieviele schöne Momente ich in den letzten Wochen erleben durfte. Und mir fällt auf einmal so Vieles ein. Jetzt sehe ich die Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Es braucht gar nicht so viel, um andere Menschen glücklich zu machen oder selber Glück zu erfahren:
- Da sind die Menschen, die ich im Zuge meiner Arbeit anrufe und nachfrage, ob sie in dieser schwierigen Zeit Hilfe brauchen. Und die dankbar meine Hilfe erwiedern.
- Da ist der dumpfe Klang der Friedensglocke der Stadtkirche, der bis zu meiner Wohnung herüberschallt und mich zum Gebet einlädt.
- Da ist das Eichhörnchen, dass ich mehrere Tage hintereinander im Baum vor meinem Fenster herumturnen sehe; was für eine Lebensfreude.
- Da ist die Posaunenmusik, die aus der Nachbarschaft ertönt. Und der anschließende Applaus von mehreren Balkonen.
- Da ist mein Weg zur Arbeit: morgens mit dem Fahrrad entlang der Felder, im Hintergrund der Frühnebel über der Aller, auf einem Feld eine Gruppe äsender Rehe und auf einer Wiese ein Hase; ein Bild des Friedens.
- Da ist das Ostergeschenk von lieben Menschen oder für liebe Menschen; eine kleine Überraschung, die den anderen erfreut.
Ich könnte noch einiges aufzählen, was mich glücklich und hoffnungsvoll macht.
Es macht mir nicht mehr so viel aus, dass wir uns vorerst weiter gedulden müssen. Wir können uns noch nicht in Gottesdiensten oder auf kirchlichen Veranstaltungen sehen. Aber ich bin mir sicher, dass wir als Gemeinde verbunden bleiben und zusammenstehen. Wie groß wird erst die Freude sein, wenn wir uns wieder treffen dürfen.
Bis dahin vergessen Sie nicht, auch das Schöne und Hoffnungsvolle in der Welt zu sehen. Und seien Sie gewiss, dass Gott immer für uns da ist, er hat uns zugesagt, dass er uns helfen wird. Bleiben Sie behütet und gesund! Herzliche Grüße von
Cornelia Schlichting, Vorsitzende des Kirchenvorstandes